In meiner langjährigen Arbeit habe ich viele Patient*innen kennen gelernt, die sehr viel Anstrengung darauf verwenden, sich ihrem Schmerz nicht zuzuwenden.
Es scheint die Befürchtung zu geben, dass in dem Moment, in dem der Schmerz Aufmerksamkeit bekommt er sozusagen die Regie übernimmt, übermächtig wird. Meines Erachtens ist das Gegenteil der Fall.
Wenn wir unsere Schmerzen nicht beachten, dann gehen sie davon nicht weg. Es ist ein bisschen, als hätten wir einen Tumor und würden sagen: „Damit möchte ich mich nicht beschäftigen.“ Der Tumor wächst trotzdem, und so kann auch seelische Verletzung zunehmen, wenn sie unbeachtet bleibt oder wir uns abwenden.
Das liegt unter anderem daran, dass das Unbewusste im Menschen ungeheuer aktiv ist. Es gibt unterschiedliche Annahmen darüber, wie viel unserer täglichen Motivation Dinge zu tun oder Dinge nicht zu tun, Worte auszusprechen oder nicht auszusprechen, uns zu etwas oder jemandem hingezogen fühlen oder abgestoßen fühlen uns tatsächlich bewusst ist.
Sicher ist, dass der weitaus größte Teil, vermutlich über 90%, davon unbewusst ist.
Und was ich nicht weiß, hat ein deutlich größeres Potenzial, Einfluss auf mich zu nehmen.
Zwischen dem bewussten Verstehen und Wahrnehmen eines Schmerzes und dessen Leugnung steht das Fühlen, der manchmal unangenehme Teil. Es ist aber genau jener Ort, an dem Heilung stattfinden kann.
Manche Menschen sagen über ihre Erfahrungen: „Ich weiß das doch, was soll es nützen darüber zu reden?“ Und sie haben recht, denn es nützt nichts, allein darüber zu reden, sondern in Kontakt zu kommen mit dem Gefühl, das mit dem Erlebten verbunden ist.
Wichtig ist hierbei zu beachten, dass der im Hier und Jetzt auftretende Schmerz ein Erinnerungsschmerz ist und das Erlebte in der Vergangenheit stattgefunden hat.
Es findet nicht jetzt statt.
Indem wir uns dem Erleben zuwenden können wir versuchen herauszufinden, was geholfen hätte, was vielleicht auch jetzt im Nachhinein noch hilft, und wir können womöglich gemeinsam Situationen identifizieren, die im alltäglichen Erleben immer wieder Schwierigkeiten machen, weil sie eben aus einem Schmerz herrühren, der vor langer Zeit hervorgerufen wurde.
Das Wesentliche in der therapeutischen Situation, in der ein Mensch es wagt, sich einem tiefen Schmerz zuzuwenden, ist die Zeug*innenschaft durch die Therapeutin.
Peter Levine und andere Traumtherapeut*innen teilen die Ansicht, dass die Frage danach, wie in der konkreten Situation, die schmerzhaft für uns war, damit umgegangen wurde, bedeutsamer sein kann als das Trauma selbst.
Ein sehr einfaches Beispiel:
Ein Kind läuft mit einem blutenden Finger zur Mutter und die reagiert mit:
„Wie oft hab ich dir schon gesagt, dass du xy nicht tun sollst“ und wendet sich ab.
Dieses Kind lernt, dass sein Schmerz nicht bedeutsam ist, weil die Mutter sich dafür nicht interessiert.
Sagt die Mutter aber: „Oh je, du Arme, zeig mal, was ist denn passiert? Komm, ich kümmere mich darum, wir machen gleich ein Pflaster darauf. Tut es doll weh?“, dann kann das Kind lernen: Mein Schmerz ist wichtig, ich werde ernst genommen, ich bedeute dem anderen etwas,. Es erlebt Trost und Heilung.
Etwas ähnliches ist die therapeutische Situation:
Wenn eine Patientin ihren Schmerz zeigt, ist es wichtig zu spiegeln: Ich sehe, dass Sie verletzt (worden) sind., ich kann mir vorstellen, dass es sehr weh tut (getan hat).
Gemeinsam kann geschaut werden: Was ist damals vielleicht versäumt worden? Was ist vorher geschehen, was hat vielleicht dazu geführt, dass eine Situation des heilsamen Zuwendens nicht stattgefunden hat?
Gemeinsam können Therapeut*innen und Patient*innen sich dem Schmerz behutsam, in Ihrem Tempo, zuwenden und dem Prozess der Heilung Raum geben.
Heilung kann nicht immer vollständig gelingen, aber Linderung und ein besserer oder hilfreicher Umgang mit Schmerz ist möglich.
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