Ein Artikel in der aktuellen „Psychologie Heute“ beschreibt Einsamkeit als zeitgenössisches Phänomen und bezieht sich dabei in erster Linie auf psychosoziale und psychophysiologische Aspekte.
Isolation (durch die Anderen) und Rückzug (des Einzelnen) werden hier genannt und daraus resultierend fehlendes Eingebunden-sein in soziale Strukturen. Sicherlich gibt es weniger Familienzusammenhalte als noch vor 60 Jahren und immer mehr Single-Haushalte.
Aber nicht wenige Menschen leben auch bewusst allein und sind deshalb nicht einsam.
Daneben entwickeln sich neue Konzepte des Miteinander-lebens.
Entscheidend scheint mir hier die Frage: habe ich bewusst die Entscheidung getroffen, allein zu leben oder bin ich allein und einsam?
Das große Drama des Alleinseins zeigt sich erst im Gefühl des „Nicht-aus-sich-heraus-Könnens“, bzw. des „Sich-nicht-weg-bewegen-Könnens“.
Das Gefühl von Einsamkeit als Folge sozialer Isolation lässt sich nicht allein als mechanistisches Modell im Sinne von fehlendem Eingebunden sein in eine sichtbare soziale Struktur begreifen.
Hier geht es auch um die innerpsychische Struktur.
In dem Artikel wird das Alleinsein von dem Gefühl der Einsamkeit unterschieden.
Diese Unterscheidung ist weniger einfach, als es den Anschein hat.
Beim Lesen dachte ich spontan an den eher lyrisch anmutenden Ausdruck: Die Einsamkeit suchen.
In dieser – gewählten – Einsamkeit geht es darum, sich selbst im Alleinsein, in esoterischen Kreisen auch gern umschrieben als „All-Eins-Sein“, zu begegnen: Ich bin allein, fühle mich aber verbunden mit der Welt, der Menschheit, dem Leben, vielleicht mit Gott.
Der Wunsch, Einsamkeit (auch: Die Illusion des Getrenntseins aus buddhistischer Sicht) zu überwinden, entweder dadurch, dass man sich ihr aussetzt und eben eine übergeordnete Verbindung spürt, oder durch das Eingebunden sein in Partnerschaften, in soziale Netzwerke, in größere Gemeinschaften, liegt womöglich, abgesehen von der Tatsache, dass der Mensch als Tier des Rudels bedarf, um sein Überleben zu sichern, in einem tief verwurzelten Wunsch, das ursprüngliche Getrennt-sein: ich bin nicht du (der Trennungsprozess des Kindes von der Mutter beginnt im Augenblick der Geburt) zu überwinden, welcher dem Menschen zu eigen ist , der im Tod die allerletzte – wie die Geburt unumkehrbare – Trennung erfährt- hier: im Tod, sogar- die Trennung vom Selbst.
Einsamkeit zu überwinden hieße in letzter Konsequenz den Tod zu überwinden.
Das Paradoxe daran ist, das der Tod uns Menschen gleichzeitig vereint in dem Sinne, dass wir alle in unserer Sterblichkeit gleich sind.
Ich verstehe die in dem Artikel beschriebene Einsamkeit des Menschen in der modernen Zivilisation nicht im Sinne eines Untergangs in der Welt virtueller und zunehmend oberflächlicher Kontakte.
Soziale Netzwerke mögen die Illusion des Eingebundenseins erschaffen können, und für real einsame Menschen Enttäuschungen bereithalten: Menschen mit funktionierendem „realem“ sozialen Netzwerk können hier aber genauso gut gewinnen. Das heißt: Die meisten Menschen er-leben sich in virtuellen Netzwerken so, wie sie sich auch im realen Leben erfahren haben. Und manchen bietet es die Möglichkeit zu einem Austausch, der ihnen ansonsten verschlossen bleibt.
Das Problem, ich nenne es mal „pathologischer“ Einsamkeit, scheint mir eher eine Konsequenz des gescheiterten Versuchs, anderen Menschen wirklich begegnen zu können.
Was bedeutet das?
Ich erinnere mich an das Buch des Autisten Birger Sellin mit dem Titel: „Ich will kein Inmich mehr sein“ (1992). Ich verstehe zutiefst einsame Menschen als „Insichs“, als Menschen, denen es trotz vielfacher und verzweifelter Anstrengung nicht gelingt, die Verbindung zu anderen Menschen zu schaffen oder aufrecht zu erhalten. Oder die, nach der Erfahrung mehrfachen Scheiterns, gar nicht anders können, als die Ursache, oder gar die Schuld vorgeblich bei anderen zu suchen. Ich behaupte aber: die innere Realität sieht anders aus.
Warum – oder: woran – sind in sich gefangene Menschen gescheitert?
Wer hat hier Versprechen gegeben und nicht gehalten?
Erfahrene Ablehnung, die gescheiterte Beziehung, der Verlust des Arbeitsplatzes, soziale Zurückweisung, Mobbing können sicherlich Ursache sein für anscheinend selbstgewählten Rückzug, sind aber womöglich nicht der eigentliche Ursprung.
Speziell das Auftreten von Depressionen und schweren Ängsten verweisen womöglich auf tieferliegende, vor der Zurückweisung liegende Erfahrungen.
Oder anders überlegt: wo beginnt die „soziale Zurückweisung“?
Ist eine frühkindliche Bindungsstörung in dem Sinn auch als Folge früher sozialer Zurückweisung zu begreifen?
Wie lernt ein Mensch Verbundenheit?
Wie lässt sich eine frühe Bindungsstörung „reparieren“?
Wie mache ich mich berührbar?
Wie erkenne ich mein wahres Selbst im anderen?
Wer bin ich, wenn ich keinen Spiegel zur Verfügung habe?
Ich behaupte, je mehr Spiegel die Welt mir bietet, seien es wahrhaftige Spiegel, im Bad, im Aufzug, im Kaufhaus, seien es Spiegel im übertragenen Sinne wie sie mir in einer online-community begegnen, desto schlechter kann ich mich selbst von innen heraus wahrnehmen. Denn mein Außenbild verzerrt mein Innen-Bild. Je schlechter ich mich wahrnehme (hier auch wieder: im Spiegel des Gegenüber, wobei eben jener erster Spiegel: die Mutter, der bedeutsamste ist), desto unsicherer bin ich, desto abhängiger durch positive Spiegel von außen: von Anerkennung und Bestätigung, auch vom Erwählt werden: Du bist es!
Das Problem hierbei ist: bei fehlender innerer Stabilität werden die Spiegel nie ausreichend sein.
Je unsicherer ich bin, desto kränk-barer bin ich gleichzeitig im Fall einer Ablehnung: weil ich dann nicht nur mir meines eigenen Wertes nicht sicher sein kann, sondern womöglich auch nicht länger weiß, wer ich eigentlich bin.
Auf die Unsicherheit folgt entweder der Versuch, meine Umgebung durch Selbstdarstellung bis hin zur Selbstentblößung auf mich aufmerksam zu machen und für mich zu gewinnen, oder der resignierte Rückzug nach innen.
Der Artikel beschreibt, wie Einsamkeit und Depression Hand in Hand gehen.
Depression ist tatsächlich auch ein Phänomen von „Sich-nicht-mehr-bewegen können“:
Nicht aus dem Bett, nicht vom Fleck, nicht aus den eigenen Gedanken, nicht aus sich selbst heraus.
Einsame, depressive Menschen haben Angst vor dem, was „da draußen“ passiert.
Facebook und Co. sind meiner Ansicht nach weniger verantwortlich für Einsamkeit, Depression und soziale Isolation als die Unfähigkeit, die Hinwendung – mit Verlaub: „der Gesellschaft“ – vom Innen zum Außen zu kompensieren.
Dieser Prozess hat schneller stattgefunden als die dazugehörige Entwicklung, die Veränderung des Ich-Bewusstseins.
Deswegen geraten wir ins Straucheln.
Auch anscheinend „gesunde“ Menschen spüren steigenden Druck von außen, der sich nach innen manifestiert.
Einsame Menschen lassen diesen Zug an sich vorüberziehen.
Sie können nicht, wie in dem Artikel beschrieben, „In Aktion treten“. Jedenfalls nicht mal so eben.
Einsamkeit überwinden kann bedeuten, sich auf einen langwierigen, mitunter sehr anstrengenden Prozess einzulassen.