Das empfindliche Selbst – der Krieg ist ein anderer

Die Zeitschrift „Psychologie heute“ veröffentlichte in ihrer Dezember-Ausgabe des Jahres 2011 einen Artikel mit der Überschrift „Wir Überempfindlichen- Warum wir Kritik, Ablehnung oder Nichtbeachtung so schwer ertragen können“.
Behandelt wird die Labilität des Selbstwertgefühls im Hinblick darauf, wie wir auf Ablehnung und Kritik von aussen reagieren.
Ich sehe in diesem Zusammenhang nicht nur die Empfindlichkeit oder begrenzte Kritikfähigkeit des Subjekts, sondern in erster Linie die Veränderungen der gesellschaftlich-sozialen Bedingungen des Einzelnen.
Es gibt unendlich viele Spiegel, die uns ununterbrochen das eigene Bild vor Augen halten, das meine ich im übertragenen wie auch im konkreten Sinn: Eine tatsächlich unüberschaubare Flut von Ratgebern, Workshop-Angeboten, Fortbildungen, Essays und Büchern will uns ununterbrochen und auf allen Gebieten zeigen, wie es richtig geht.
Bezeichnenderweise ist das auch im Editorial der „Psychologie heute“-Ausgabe so: auf der linken Seite finden Sie Buchempfehlungen zu den Themen Coaching, Befreiung (natürlich des Selbst), Kommunikation, Frauen im Business und so weiter.
Ich kann keine Zeitung aufschlagen, kaum öffentliche Verkehrsmittel benutzen, keine Internetseite aufrufen, es gibt tatsächlich keinen öffentlichen Raum, in dem mir neben der Werbung für das richtige Waschmittel nicht auch auch Werbung für richtige Erziehung, richtiges Essen, richtiges Sprechen, richtiges Leben und richtiges Denken – die Liste könnte endlos sein – entgegenschlägt. Ich betrachte das insofern als Spiegel, als dass ich meiner Ansicht nach nur die Wahl habe, mein Umfeld sehr selektiv wahrzunehmen beziehungsweise einzuschränken und zu versuchen solche Suggestionen zu ignorieren oder mich dazu in Bezug zu setzen, soll heißen, mich zu fragen: Habe ich das richtige Waschmittel? Bin ich eine gute Mutter? Kaufe und esse ich die richtigen Nahrungsmittel? Benutze ich die richtigen Worte, um das Richtige zu erreichen? Lebe ich mein Leben eigentlich so, wie ich es will? Und selbst, wenn ich mir diese Fragen nicht konkret stelle und mich in ihren Suggestionen: nämlich, dass es „das Richtige“ gibt – zu entziehen vermag, dann – behaupte ich – empfange ich dennoch permanent unbewusst diese Botschaften der unendlichen Möglichkeiten.
Das Problem ist:
Das Optimum gibt es nicht, und nicht jeder und jede kann überall der oder die beste sein- und:
was das beste ist, hat sich noch nie so schnell geändert wie in den letzten 60 Jahren.
Wen verwundert es, wenn ein Mensch unter diesen Umständen unsicher und empfindlich wird.
Wenn ich mich nun für das beste Waschmittel entschieden habe und meine Wäsche aber weder sauberer noch frischer wird und auch nicht länger sauberer bleibt und meine Kinder sich nicht weniger dreckig machen und mein Leben dadurch auch nicht großartiger wird, was soll ich dann noch tun?
Und wenn ich die richtigen Klamotten trage und Selbstfindungs-Seminare besuche und immer noch nicht der beliebteste Kollege bin, was dann?
Wir neigen dazu, das Scheitern in solchen Augenblicken NICHT im falschen Waschmittel oder überhöhtem Anspruch zu suchen, sondern klagend in uns selbst.
Letztendlich ist hier bereits der Begriff des Scheiterns fragwürdig, wir sind der Suggestion erlegen, dass Wäsche dauerhaft so aussehen kann, als sei sie frisch gekauft und würde uns Tür und Tor zu Beliebtheit und Wohlstand eröffnen, sprich, zum großen Glück.
Was für eine Enttäuschung, wenn dem dann doch nicht so ist.
Psychologie heute“ zitiert Mark Leary mit den Worten:
„Die Natur hat uns so konstruiert, dass wir wachsam gegenüber potentiellen Zurückweisungen bleiben, denn die meiste Zeit unserer Frühgeschichte war unser Leben abhängig von einer kleinen Gruppe von Menschen. Ausgegrenzt werden hätte das Überleben gefährdet“.
Heute geht es um das soziale Überleben, um den Übergang vom Überleben in mehr oder minder existentieller Not hin zum Leben im Überfluss.
Das Präfix ist gewandert.
Wir leben auch nicht im Krieg. Oder: Der Krieg ist ein anderer.
Mangels existentiell gegebener und notwendiger Bindungen gehen wir Fehlbindungen ein.
Unter Fehlbindung verstehe ich z.B. die Einbindung in ein virtuelles soziales Netzwerk, dessen Interagieren auf mich als Individuum die gleichen psychischen Auswirkungen hat wie reale Bindungen, als Beispiel die Kränkung bei Ausschluss aus einer Gruppe auf einer Plattform oder den Schmerz bei – ebenfalls rein virtuellen – Trennungen; wenn jemand mich aus seiner Freundesliste streicht oder die Abhängigkeit vom Beliebtheitsranking egal mittels welchen Mediums auf Facebook, Youtube, Google+, Ipernity und anderen.
Ich glaube, dass der schnelle Sprung ins virtuelle Leben zu Unsicherheiten in der Unterscheidung in reale und irreale oder besser: angemessene und unangemessene Kränkungsempfindungen geführt hat.
Psychologie heute“ weiter:
„Ein sehr hoher Prozentsatz negativer Erlebnisse in unserem Leben geht heute auch auf die Erfahrung zurück, dass jemand eine Beziehung nicht in gleichem Maße schätzt, wie wir es tun, oder dass uns eine Gruppe ablehnt, zu der wir gern gehören möchten. Die Balance der investierten Gefühle stimmt nicht.“ Wir erwarten, dass die Versprechen, die uns gegeben wurden, eingelöst werden.
Wir benutzen das richtige Waschmittel, wir haben 1500 Freunde auf Facebook, wir haben unsere Ratgeber gelesen und trotzdem geht es uns nicht gut.
Der Gebrauch des Begriffs der Investition spiegelt es einmal mehr: Wir glauben, wie bei einem Automaten, wenn wir nur genügend einwerfen, kommt auch genug heraus. Und weinen, wenn wir uns betrogen fühlen.
Psychologie heute: „Alle Spielarten sozialer Ablehnung oder Geringschätzung tangieren unser Selbstwertgefühl“. Hier beisst sich die Katze in den Schwanz: denn vermutlich rührt auch eben jene Geringschätzung aus nichts anderem als dem Versuch der Abgrenzung eines weiteren Individuums mit geringem Selbstwertgefühls, frei nach dem uralten Motto: ich haue drauf, damit ich mich besser fühle oder grenze aus, was mich bedroht.
Was ich daraus lese, ist nichts als übergreifende und verzweifelte Orientierungslosigkeit.
Bisher hat nichts und niemand die beiden existentiellen Bindungsprinzipien Großfamilie und Religion ersetzen können.
Beuys´ “Jeder Mensch ist ein Künstler“ falsch verstanden, verbunden mit den penetranten Auswirkungen der Glücks-und Erfolgssuggestionen führt mangels dieses Gefühls des Eingebundenseins zu dem übersteigerten Wunsch nach grenzenlosem be-liebt, ge-liebt und erfolgreich sein und der permanente Beschuss von aussen macht unsere Haut porös und damit viel zu durchlässig.
„Psychologie heute“ nennt als Entstehungsursache für übersteigerte Empfindlichkeit des Individuums unter anderem falsch verstandene Elternliebe:
„Paradoxerweise entsteht sie“ (die Empfindlichkeit) „heute oft aus dem Bemühen vieler Eltern, das Selbstwertgefühl ihrer Kinder aufzupäppeln und quasi vorbeugend zu festigen: Sie vermeiden Kritik, überhaupt alles, was die Kinder ermutigen oder kränken könnte. Stattdessen loben sie oft und überschwänglich und belohnen jede Mini-Leistung. Paradoxerweise untergraben sie damit jedes Selbstwertgefühl. Wenn überschwängliches Lob zum Standard in der Erziehung wird, können Kinder den Absturz bei dessen Ausbleiben oder bei noch so berechtigter Kritik (die irgendwann fällig wird) nicht aushalten“.
Dahinter sehe ich erneut die Angst, hier die elterliche, etwas falsch zu machen.
Die Vorstellung von Erziehung hat sich geändert, früher war das Frauensache, der Vater hatte die strafende Rolle, Schläge waren an der Tagesordnung, des Kindes Wunsch zählte nicht.
Es scheint wie mit allen Umwälzungen in der Geschichte zu sein: das Alte hat sich überlebt, das Neue längst nicht gefestigt, und es bleibt die Frage zu stellen, wird es „das Neue“ an sich geben? Wenn nicht, wie kann ich als Einzelner eine vernünftige Erziehungsmethode wählen, ohne mich dem Druck, das Optimum herauszuschlagen, zu ergeben?
Wie kann die Angst vor Fehlern gemindert werden?

Winnicott führte den Begriff der „ausreichend guten Mutter“ in die Psychoanalyse ein.
Wie wäre es mit der „ausreichend guten Erziehung“? Dem „ausreichend guten Partner“? Dem „ausreichend guten Job“? Dem „ausreichend guten Aussehen“? Oder dem „ausreichend guten Auto“?
Oder dem Mut zum Fehler?

Ich meine damit nicht, dass man sich nicht anstrengen sollte, im Gegenteil.
Was ich anzweifle, ist die Sinnhaftigkeit der Fixierung auf das Optimum, welche zur Folge hat, dass mein Bild von mir selbst und auch von meinem Gegenüber blitzschnell infrage gestellt werden kann.
Auch haben Selbstvorwürfe manchmal mehr als nur einen Hauch von Egoismus.
Etwas zu erreichen ist womöglich keine Frage der richtigen Methode sondern – auf die Gefahr hin, einen Aufschrei zu provozieren- unter anderem eine Frage von Disziplin.
„Psychologie heute“ schreibt zum Ende des Artikels:
„Rechnen Sie einfach damit, dass andere kritisch, brüsk, uninteressiert oder abweisend sind: Es ist eine Tatsache des Lebens. Sind Sie immer gleich höflich, freundlich und zugewandt?“
Ich finde diesen Ratschlag sehr traurig und ehrlich gesagt auch falsch.
Es geht nicht darum, mit irgend etwas zu rechnen.
Es geht darum, zu sehen, was ich mir in meinem Leben wünsche und was ich innerhalb meiner Möglichkeiten und mittels meiner Fähigkeiten erreichen kann.
Es geht darum, einen Hagelsturm als das hinzunehmen, was er ist:
Ein vorübergehendes Unwetter.
Ein wie oben skizziertes Menschenbild empfinde ich als feindselig und wenig hilfreich.
Hilfreich könnte sein, die Disziplin zu erwerben, selbst eine von aussen unabhängige Höflichkeit und Freundlichkeit an den Tag zu legen.
Freundlichkeit muss nicht immer authentisch sein.
Ich betrachte sie als eine hilfreiche, wohltuende Form des Umgangs miteinander.
Mein Ratschlag – mir des Widerspruchs, dass ich damit der Welt damit einen weiteren Beitrag zum Thema „wie es richtig gehen könnte“ liefere, bewusst – lautet:
Seien Sie so freundlich wie es eben geht, das steigert das Wohlbefinden ganz ungemein. Und damit auch das Selbstbewusstsein.
Definieren Sie Ihr Selbstbewusstsein an dem, was IST, und weniger an dem, was sein könnte.
Der ursprüngliche (philosophische) Begriff des Selbstbewusstseins meint das gewahr werden der eigenen Existenz: Wer bin ich?
Je mehr Reduktion in der Beantwortung dieser Fragen steckt, desto höher ist das zu erwartende Zufriedenheitspotential, glaube ich.
Um auf den Beginn dieses Textes zurück zu kommen:
Ein Mensch braucht sein Gegenüber als Spiegel seiner selbst.
Ohne diese Spiegel kann er sich nicht wahrnehmen.
Er kann dem Spiegel allerdings auch das, was er sieht, nicht vorwerfen.
Das Problem der unerwartet und vermehrt erscheinenden Spiegel ist ein umfassendes weiteres Thema.
Die Tatsache, dass wir tagtäglich an Schaufenstern vorbei gehen, uns auf Fotos sehen, sogar auf Videos, dass wir uns vielleicht auf Bildern selbst darstellen, hat das Bild des Selbst in den letzten 100 Jahren ganz sicher fundamental verändert.
Diese Aussenbespiegelung, zusammen mit der erwähnten Flut von Aussenreizungen führen zu Stress- und Überforderungs-Reaktionen.
Das einzige, was hier helfen mag, ist Rückzug, Ruhe, eben die oben genannte Reduktion.
Also weniger Selbsthilfebücher lesen, dem Schaufensterspiegelbild eine lange Nase drehen und die Umwelt durch planlose dauerhafte Freundlichkeit in Erstaunen versetzen.